Madame

198 Seiten|Prospekte|20.11 - 31.12.2013Angebot abgelaufenAktuelle Prospekte Angebote in Woosmer

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BUCH SPEKTRUM
DER FLUSS
DES LEBENS
Grenzenlose Gefühle, kreuz und quer über den
Globus verteilt: Hannah Dübgen erzählt von
Menschen, die zwischen den Kulturen wandeln
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Die „innere Erfahrung von Musik in Sprache
zu fassen, ohne dass es wolkig oder
kitschig klingt“, das sei ihr Anliegen gewesen
beim Schreiben ihres Debütromans
„Strom“ (dtv, 14,90 Euro), erklärt Hannah
Dübgen, 35. Zielvorgabe mit Bravour erreicht:
Tatsächlich fließt ihr Buch aus verschiedenen
Winkeln der Welt geradezu symphonisch
auf ein fulminantes Ende im riesigen,
modernistischen „Jerusalem Theatre“
in Israel zu, das die Protagonisten beim Erleben
eines Chopin-Konzertes eint, ohne dass sie
sich treffen. „Ein paralleles Nebeneinander, in
dem vielleicht Emotionen und Wahrnehmungen
ähnlich schwingen“, sagt die Autorin. „Die
Stimmen verweben sich, doch jede bleibt ihre
eigene, und schließlich ergeben sie gemeinsam etwas anderes.“
Ihr literarisches Quartett besteht aus einer Berliner
Filme mache rin, die Schicksale im Gazastreifen dokumentiert,
einer in Paris lebenden japanischen Konzert pianistin,
einem in Tokio stationierten amerikanischen Investment-
Manager und einem brasilianischen Zoologieprofessor in
Tel Aviv. Wie aufeinander zulaufende Flüsse münden die
Handlungsstränge in einen metaphorischen Strom, der
sich am Schluss in ergreifende Klänge ergießt.
Polyglott wie ihre Figuren ist auch die Autorin selbst. Mit
ihrer jüngeren Schwester (heute Philosophin) wuchs Hannah
Dübgen in einem sehr kunstsinnigen „klassischen Bildungsbürger–Elternhaus“,
wie sie sagt, in Düsseldorf auf.
Früh schon spielte sie Klavier, verschlang aber vor allem
leidenschaftlich Bücher: „Am Ende war ich immer bewegt,
aber auch traurig. Angefangen mit Pippi Langstrumpf habe
ich alle Geschichten für mich persönlich weiter erfunden.“
Mit 16 ging sie auf ein Internat nach England, studierte
Literatur und Philosophie in Oxford und Paris und setzte
in Berlin, wo sie seit 2000 lebt, einen Abschluss in Musikwissenschaften
drauf. Schrieb Theaterstücke und Libretti
für Opern, die nicht nur in Deutschland, sondern auch am
Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie und am Londoner
Royal Opera House aufgeführt wurden. Ihr Mann ist der italienische
Komponist Mauro Lanza, ein Venezianer, der die
letzten 15 Jahre vorwiegend in Paris gewohnt und dort seine
zeitgenössische, manchmal elektronische Musik geschaffen
hat. Zukunftsprojekte schließen für Hannah Düb gen sicher
auch hin und wieder die Zusammenarbeit mit ihm ein. Erst
mal ist da aber der 16 Monate alte Sohn, dessentwegen
sie die ständige Pendelei zwischen Paris und Berlin der
letzten Jahre bis auf Weiteres zugunsten eines Familiendomizils
am Prenzlauer Berg aufgibt. Einem Viertel mit großer
Künstlerdichte. „Hier findet man auf jedem Spielplatz zwei
Autoren und drei bilinguale Kinder“, sagt sie. Und wenn
sie doch einmal Lust auf Tapetenwechsel verspürt, fährt
sie eben nach Venedig, wo die Familie ihres Mannes nahe
den Giardini lebt. Sie liebt das Sprachengewirr in ihrem persönlichen
Umfeld: Mit der Verwandtschaft wird
italienisch parliert, mit dem Kind reden die Eltern
jeweils in ihrer eigenen Muttersprache, das Paar
spricht französisch miteinander, Berufliches
wird natürlich oft auf Englisch geregelt. Solch
ein Klangteppich ist auch in Hannah Düb gens
Hinterkopf, wenn sie ihre kosmopolitischen
Romanfiguren entwirft: „Mein Kernpunkt ist
eigentlich, dass jede von ihnen ganz spezielle
Blicke auf andere, ihnen ein wenig fremde
Kulturen werfen kann.“ FRIEDERIKE ALBAT
MADAME 8/2013
FOTOS: Susanne Schleyer/Autorenarchiv.de (1); Random House GmbH, München (2)

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HÄNGEREGISTER
Wie früher die Telefonbücher auf der Post: „Booken“,
entworfen für Lema von dem in England
lebenden Designduo Shay Alkalay und Yael Mer
aus Israel, ist als Bücherregal nicht nur praktisch,
sondern auch ein Blickfang. Ab ca. 500 Euro.
Celan hören
Auftakt der Tournee „Zweistimmig –
Hommage an Paul Celan“ (22.8.), vorgetragen
von Ben Becker mit Musik
von Giora Feidmann, sind die Jüdischen Kulturtage
in Berlin. Weiter geht es dann bis
8.12. durch Deutschland und Österreich (Info:
meistersingerkonzerte.de). Auch als Hörerlebnis
auf CD (Random House Audio, 19,99 Euro).
SENSATIONELL
Ein Jahrhundertwerk,
verständlich dechiffriert:
James Joyces
„Ulysses“, die vom
griechischen Mythos
inspirierte Odyssee
seines Helden Leopold
Bloom durch Dublin,
erscheint als rund
40-stündige Lesung auf
Deutsch. Inszeniert von
Regisseur Ralph
Schäfer, gelesen von
Schauspielern wie
Matthias Brandt oder
Sophie Rois erlebt man
den literarischen
Meilenstein ganz neu
(Der Hörverlag, 31 CDs,
99,99 Euro; oder 6
MP3-CDs, 79,99 Euro).
LESE-HIGHLIGHTS
â$%,16:$66(5 Mit „Swim – Über unsere Liebe
zum Wasser“ (Haffmans Tolkemitt, 19,99 Euro)
liefert die langjährige Korrespondentin des
US-Senders ABC News eine informative und
vergnügliche Kulturgeschichte über just das
Element, in das wir jetzt am liebsten abtauchen.
âSCHONUNGSLOS Entwaffnend ehrlich setzt sich
die Amerikanerin Wendy Plump in „Treu wären
wir gern gewesen – Geschichte einer Liebe“
(Bloomsbury Berlin, 18,99 Euro) mit den Seitensprüngen
ihres Ehemannes auseinander – und
genauso mit den eigenen. Das Phänomen Fremdgehen
in aufrüttelnder Nahaufnahme. Geradezu
Pflichtlektüre, selbst – oder eher vor allem – für
diejenigen, die denken, sie dächten nicht mal im
Traum an die eine oder andere Affäre …
â0$.$%(5 „Arsen und Spitzenhäubchen“ in der
Weimarer Republik: In „Madame Jakublonskis
Monstrositäten-Cabinet“ (Dresdner Buchverlag,
19,90 Euro) zeichnet Michael
Braun das komisch-bitterböse
Porträt einer skurrilen Schaustellertruppe,
die der davongalop
pierenden Inflation erfinderisch
trotzt: mit Leichenhandel!
â$7(0%(5$8%(1' Sarah
Jessica Parker liebt es, Reese
Witherspoon hat sich die
Filmrechte gesichert und
spielt die Hauptrolle: Gillian
Flynns „Gone Girl“ ist
Beach-Talk von den Hamptons
bis Hollywood. Dieser
superclever komponierte
Thriller um eine Ehe mit
möglicherweise tödlichem
Ausgang ist ein Muss.
EIN HOCHBRISANTES STÜCK ZEITGESCHICHTE
54 Stunden, die die Nation erschütterten: Zum 25. Mal jährt sich jener 16. August 1988, an dem eine
hochspektakuläre – und live im TV übertragene – Geiselnahme in Deutschland ihren fatalen Lauf nahm.
Zwei bewaffnete Räuber stürmten eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Mit ihrer Beute und zu
Beginn zwei entführten Angestellten begaben sich Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösler auf die
Flucht, später stieß Marion Löblich, Röslers Freundin, dazu. Gejagt von der Polizei und manchmal auch
deren Arbeit behindernden Reporterhorden brachte das Gangstertrio schließlich einen Linienbus mit
32 Passagieren in seine Gewalt. Fünf Menschen ließen die Entführer frei. Das Drama forderte jedoch das
Leben eines Polizisten und zweier junger Leute, Emanuele De Giorgi, 15, und Silke Bischoff, 18, bevor es
zwei Tage später mit der Festnahme der Verbrecher endete. Diese Ereignisse hinterfragt Peter Henning
in „Ein deutscher Sommer“ (Aufbau, 22,99 Euro) und verwebt sie zu einem großartigen Roman über
die jüngere Vergangenheit. Untersucht Fehlverhalten der Polizei ebenso wie das von damals in erster
Reihe agierenden Medienvertretern, unter denen ein heute bekannter Fernsehmoderator und ein späterer
Chefredakteur einer großen deutschen Boulevardzeitung waren. Nach „Die Ängstlichen“ (2009) und
„Leichtes Beben“ (2011) jetzt der ganz große Wurf eines Autors, der einen auf Fakten basierenden
Psycho-Thriller gekonnt zu einem kritischen Gesellschaftsbild westdeutscher Befindlichkeiten verdichtet.
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