Madame

198 Seiten|Prospekte|20.11 - 31.12.2013Angebot abgelaufenAktuelle Prospekte Angebote in Woosmer

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PSYCHO
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VORSICHT, ZERBRECHLICH!
Verfolgt jemand konsequent sein Ziel, finden wir das klasse. Solange daraus
nicht Sturheit wird. Denn die bringt auch die beste (Liebes-)Beziehung zu Fall
Gegen eine Tiefkühlpizza
ist an und für sich überhaupt
nichts einzuwenden.
Es gibt Tage, da fehlen
selbst ambitionierten
Hobbyköchinnen und
-köchen Zeit und Nerv,
um sich in die Küche zu
stellen. Pizza in den
Ofen, Weißwein aus dem
Kühlschrank, das muss
auch mal drin sein. Zu
einem ernst zu nehmenden Partnerschaftsproblem kann
eine Tiefkühlpizza allerdings werden, wenn einer der Partner,
sagen wir mal: er, die Pizza auf das Gitter legt, aber
konsequent darauf verzichtet, ein Backblech darunterzuschieben,
was dazu führt, dass sich pro Pizza etwa zehn bis
zwölf Käsefäden auf den Ofenboden abseilen und sich dort
als äußerst hartnäckige Verkrustungen ablagern, die im
Spätstadium nur noch mit Hammer und Meißel zu entfernen
sind. Sie weiß das, sagt aber nichts, weil sie sich vorgenommen
hatte, nicht die Haushaltsfurie zu geben, die
wegen jedem Schmutzrand gleich grundsätzlich wird, sondern
auf die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis auch bei Männern
zu vertrauen. In diesem Fall hat sie sich aber gründlich
verrechnet. Als der Göttergatte zu Thanksgiving einen
monströsen Truthahn ins Rohr schiebt, wundert er sich,
warum nach einer Stunde die Ex-Pizza-Käsekruste Dämpfe
produziert, sodass in der Wohnung die ersten Feuermelder
Alarm schlagen: „Möchte mal wissen, was mit dem Ofen
los ist, der Abzug funktioniert irgendwie gar nicht mehr.“
Das jetzt folgende Beziehungsgespräch steht unter keinem
guten Stern: Er findet es stur, den Käse nicht wegzumeißeln,
wenn er sie so sehr stört. Und er räume – erstens ja auch
MADAME 8/2013
FOTO: Katerina Tsatsani/folio-id.com

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ihre Klamottenhäufchen aus Bad, Flur und Schlafzimmer
weg, ohne darauf zu warten, bis das Messi-Team von RTL2
anrückt. Zweitens – und überhaupt – sei es erschütternd,
dass man sich über Käsereste im Backofen streite, man sei
doch ursprünglich mal für etwas ganz anderes angetreten.
Sie fühlt sich doppelt und dreifach ungerecht behandelt,
wollte sie doch genau das nicht sein, was er ihr gerade
vorwirft. Tief gekränkt ziehen sich beide in getrennte Räume
zurück und versuchen zu schlafen. Es wird für beide
keine gute Nacht, weil sie so wütend sind: auf den anderen,
der so stur, hartleibig und uneinsichtig ist. Und auf sich
selbst, weil es so verdammt schwer ist, ab einem bestimmten
Punkt auch nur einen Deut von seinem Standpunkt
abzuweichen, selbst wenn es sich nur um geschmolzenen
Käse im Ofen handelt.
Warum sich mit der Zeit Unnachgiebigkeit in die Beziehung
eingeschlichen hat, hat mit ihrer Vorgeschichte zu tun. Als
sie zusammenkamen, zelebrierten sie die große Liebe. Und
da spielten Käsereste noch nicht einmal eine Nebenrolle, es
ging ausschließlich um die Einzigartigkeit dieser großen
Liebe, die alle bisher bekannten Gesetze von Liebesbeziehungen
sprengen und neu definieren würde. Um diese Illusion
aufrechtzuerhalten, wurden vor dem Käse-Fiasko bereits
unzählige Kompromisse gemacht, die allerdings nie
thematisiert wurden: Unzählige Freunde von ihm oder ihr
wurden opulent bekocht, um sich hinterher zu fragen, warum
er/sie eigentlich mit einem zusammen ist, wenn er/sie
solche Freunde hat. Unzählige Wochenenden wurden bei
seinen/ihren Eltern verbracht, mit viel professioneller
Freundlichkeit, professioneller Konversation und sehr viel
professioneller Toleranz, wenn es darum ging, Unverschämtheiten
zu schlucken. Kompromissurlaube ohne
Ende, Silvesterfeiern, die sich alle hätten schenken können.
Ein großartiges Paar, könnte man jetzt sagen, warum regen
die sich über verbrannten Käse auf, wenn sie so viele Klippen
umschifft haben? Genau deshalb, vermutlich. Irgendwann
ist das Maß voll. Man hat zu oft Ja gesagt, eingelenkt.
Findet, dass es jetzt reicht, denkt, dass man nun auch mal
dran wäre – und dann wird es schnell ultimativ: Entweder
– oder. Was noch konsequent ist oder schon stur und verbohrt,
ist in solchen Situationen schwer zu entscheiden.
Konsequent zu sein bedeutet in der Psychologie, sich im
Einklang mit seinen Einstellungen, Absichten und Zielen zu
verhalten. Stur zu sein bedeutet im Prinzip dasselbe, nur
dass jemand an seinem Ziel festhält, obwohl sich seine Mittel,
dieses Ziel zu erreichen, als nicht geeignet erwiesen
haben oder das Ziel realistisch überhaupt nicht zu erreichen
war. Wobei diese Wertung nicht ganz ohne Fragezeichen zu
sehen ist, denn nach unseren Sturheitskriterien wäre ja eine
durchaus respektable Figur der Weltgeschichte wie zum
Beispiel Mahatma Gandhi als ein geradezu unerträglich verbohrter
Beton- und Trotzkopf zu bezeichnen.
Konsequentes Verhalten hat für uns so eine überragende
Bedeutung, weil das, was dahintersteht, unsere Werte,
unsere Überzeugungen, kurz: unsere Haltung, uns nicht
gerade zugeflogen ist. Wir verbringen unser halbes Leben
damit, uns ständig zu hinterfragen, führen mit Freunden
endlose Diskussionen darüber, was richtig, was falsch ist.
Und vieles von dem, woran wir heute fest glauben, haben
wir uns in der Vergangenheit mühsam erworben, auch mit
Erfahrungen, oft mit schmerzhaften: dass es nicht immer
richtig ist, auf den Rat guter Freunde zu hören, sondern bei
bestimmten Entscheidungen auf die eigene Intuition. Dass
es ganz schön viel Mut braucht, sich im Job für eine Kollegin
einzusetzen, die abgesägt werden soll, dass es aber so
wichtig ist, nicht nur für die Kollegin, sondern auch für
einen selbst, weil es eben keine leere Phrase ist, wenn es
heißt, dass man morgens mit einem guten Gewissen in den
Spiegel sehen kann. Dass einem einiges im Leben zufliegt
und man für anderes ziemlich kämpfen muss und dass man
für beides ganz schön dankbar sein kann.
Und natürlich haben wir auch aus unserer Beziehungsbiografie
unsere Lehren gezogen und eine Haltung entwickelt:
Wir wissen, was wir wollen, und vor allem, was nicht. Dass
der Einfluss der Schwiegereltern auf die Beziehung klaren
Grenzen unterliegt. Dass sich der hygienische Standard im
Bad signifikant von dem einer Jungs-WG unterscheidet.
Dass in geselliger Runde keine launigen Anekdoten über
den Partner erzählt werden, die ihn alt aussehen lassen,
auch wenn es noch so lustig gemeint ist. Dass man auch
Fisch grillen kann. Dass es wichtig ist, sich auch die
87. Trennung einer besten Freundin mehrstündig am Telefon
referieren zu lassen, weil Freundschaft ein kostbares
Gut ist. Dass es einen Unterschied zwischen lügen und nicht
erzählen gibt (oder gerade nicht) und, und, und. Mit diesem
Set an Überzeugungen, was wichtig und richtig ist, gehen
wir in jede neue Beziehung. Und es fühlt sich ja auch gut
geerdet an, nicht in jeder Situation die flatterige Unsicherheit
von früher zu durchleben, als jeder Konflikt zwangsläufig
die Frage mit aufwarf: Und was, wenn ich mit meiner
Meinung total danebenliege?
Und trotzdem kommen wir immer wieder an einen Punkt,
nachts bei einer endlosen Diskussion, bei der irgendwann
die glasklaren und durch lange Erfahrung solide fundierten
Argumente und Standpunkte nur noch konsequent umeinander
kreisen, während es ziemlich ans Eingemachte geht:
Da gesteht der eine dem anderen keine Schwäche zu, fühlt
sie sich in der Krise konsequent allein gelassen oder ➛
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